Mirella Pietrzyk

Das künstlerische Werk von Mirella Pietrzyk, ihr moderner Surrealismus, ist zweifelsohne einzigartig in der deutschen Gegenwartskunst. Die in Polen geborene Malerin nimmt sich die Freiheit, ihre überdimensionalen bis kleinformatigen Bilder – allesamt bilden sie faszinierende Traumreisen, Metamorphosen, bizarre menschliche Figurationen ab – im altmeisterlichen Stil als Zeugnisse des Visionären in der Kunst zu präsentieren. In vollendeter Beherrschung der Form bringt sie ihre „Traumwelt im toten Winkel“ so überzeugend zur Anschauung, dass sich ein ganzes Universum magnetisierend-obsessiver Phantasmagorien zu einer in sich geschlossenen, hermetischen Weltsicht fügt, die auf den ersten Blick irritierend, erschreckend wirken mag, doch auf den zweiten Blick den Betrachter mit einer magischen Anziehungskraft umzaubert. Erst auf den dritten Blick entdeckt der Betrachter auch zarte Kritik der Künstlerin an den Rollen, die dem schönen Geschlechts in unserer Gesellschaft zugewiesen werden.

TraumreisenMetamorphosen | Ausstellung von Mirella Pietrzyk in der Kirche auf dem Tempelhofer Feld

Kennen Sie das befremdliche Gefühl, dass mit Ihnen etwas nicht stimmt? Dass Sie gar nicht in diese Welt passen? Dass Ihre Existenz, Ihr Geist, der in einem weichen, zur Schwabbeligkeit neigendenKörper gefangen ist, nicht zu der üblichen Bau- und Denkweise passt, deren Fetische Ecken, Kanten und polierte Oberflächen sind? Spüren Sie nicht auch, dass unser Haus, dieser Körper mit seinen Schleimen, Exkrementen und sonstigen Absonderungen unversöhnlich ist mit einer Umgebung, deren höchstes Ideal geruchloses Funktionieren ist? 

Und dann, plötzlich, sehen Sie diese gefühlte Verzerrung, die ihre Selbstzweifel ständig nährt. Sie sie sie auf einem Bild. Nein. Sie sehen etwas, aber Sie erkennen nicht, was. Sie wissen nur, auf diesem Bild, da stimmt etwas nicht, und dieses Etwas stimmt ebenso wenig wie Sie selbst, und diese:r Künstler:in, die kennt es offenbar. Sie zeigt es, ohne zu erklären, was auch immer das ist. 

Wenn wir das Gefühl haben, dass etwas nicht stimmt, aber nicht herausfinden was, dann ist ein Gespenst im Raum, eine unsichtbare Macht. Denn das etwas, Sie spüren es, ist stärker als Sie. Sie gruseln sich. 

Wir sind heute schon ziemlich abgebrüht im Umgang mit dem etwas, mit dem Gespenst. Wenn wir die Nase voll haben von Horror, Grusel und Aliens, schalten wir einfach ab. Der Monitor wird dann wiederschwarz. Doch der Grusel bleibt. 

Das ist unsere Existenz. Das ist, was Künstler:innen seit jeher bewegt, auch Mirella Pietrzyk. Schauen wir uns ihre Bilder an. Reden wir darüber. Reden ist ja auch schön, und das eigentlich Schöne am Reden ist unsere Stimme, die mit unserem Atem verbunden ist. Manchmal hört man jemandes Lunge pfeifen, Spucke knirscht, die Zunge stößt irgendwo an. 

Also reden wir über Mirellas Bilder, aber seien wir vorsichtig im Gebrauch von Worten. Worte sind so unzulänglich. Sie sind wie wir. Nie stimmen sie wirklich. Sie reichen nicht aus. Sie sind keine Wollfäden. Sperrig sind sie, sie wollen etwas ein. Ein Satz! 

Glauben Sie mir, ich bin Autor:in und weiß, wovon ich rede. Worte sind mein Material. Ich zerhacke sie. Ich zermalme sie, bis sie fein sind wie Staub, ganz leicht und arm. Arme Worte sind gut. 

Wissen Sie, wenn ich die Bilder von Mirella anschaue, finde ich meine Fremdheit gespiegelt, doch ich spüre keinen Grusel. Diese Frauen sind nicht von hier. Sie kommen aus der Vergangenheit oder der Zukunft oder aus einer Parallelwelt, aber ich fühle mich ihnen sehr nahe. Verwandt. Verfilzt. Verstrickt. 

Einige Gesichter, so erwartet man, müssten einen doch in Angst versetzen. Man steht davor und wartet auf den Grusel, aber er kommt nicht. Na nu?

Vielleicht hat es damit zu tun, dass diese Frauen nie allein sind. Die Art, wie sie miteinander sind, das kennen wir und kennen es auch nicht, haben es vergessen. Sie lehren sich Handwerke. Sie zeigen einander, wie man einen Menschen näht. Einen passenden Mann. Oder eine kleine Schwester? Sie lehren sich Magie und ja, sicher auch Liebespraktiken. Und sehen Sie, selbst diese dort, der ein dicker Ast im Mund steckt, wird liebevoll gehalten. Sie wird nicht schief angesehen oder angeschrien, sie solle doch mal den Ast aus dem Mund nehmen! Nein. In diesem Kosmos der Frauen dürfen alle irgendwie sein, egal, was sie gerade ausrülpsen. Sie sind schön und geheimnisvoll und autonom, egal, ob sie Facettenaugen wie Fliegen tragen oder Schläuche in der Nase haben. Wer ist überhaupt auf die Idee gekommen, dass ein Schlauch in der Nase nicht schön ist? 

Diese Frauen haben ihre eigenen weiblichen Werkzeuge kreiert, die in nichts an die Ecken-und-Kanten-Welt erinnern. Die Werkzeuge dieser Frauen sind leicht, organisch geformt, sie erinnern an Früchte und Schlünde, oder auch an die verachteten weiblichen Körperteile, um die in der Ecken-Kanten-Welt ein riesiges Gewese veranstaltet wird, als sei es irgendwie besonders, eine Vulva und Brüste zu haben. In Mirellas Welt sind diese Formen Basis des Schaffens der Frauen, egal, ob sie am Ende zu enormen Roben und Hüten werden, die schwerelos scheinen, allerhöchstens von einer schmalen Hand gestützt, die aus einem schlanken Arm aus einem High Heel wächst. Oder ob sie als Forscherinnen die zarten Propeller ihrer fliegenden Schüssel anwerfen und am Ende der Exkursion weich auf den Hühnerfüßen der Baba Yaga, eine ihrer Urahninnnen, landen. 

Behaart und verfilzt schäumen sie vor sich hin. Ständig sondern sie etwas ab, das sieht so hübsch aus. Alle ABSONDER Lichkeiten werden von ihnen kultiviert. Wie sie beim Tee hocken und ihre Haare fliegen. Alice hätte das gefallen, dieses ganz andere Wunderland, ohne Patria-Königin, die alle umbringt. Gummireise auf Rollschuhen, unter riesigen Mützen, aus denen sich Tiere ergeben. So puffen und tuffen und düsen sie durch den Kosmos und bestimmt pupsen sie auch. 

Alle sind miteinander verschwistert und verstrickt. 

Da wir in einer Kirche zu Gast sind, hat Mirella Pietrzyk auch neue Heilige mitgebracht. Ich sehe in ihnen die verschiedenen Dimensionen der Weiblichkeit dargestellt. Die zweite Dimension: Das Heilige Paar. Die dritte Dimension: Die Heilige Frau mit dem Kind. Die fünfte Dimension: Die Heilige Frau als Single. 

Nun, zu einer ordentlichen Rede gehören Einordnungen, aber große Göttin, wer spricht denn hier von Ordnung? Soll ich jetzt etwa die Männer aufzählen: Freud, Jung. Breton, Dali, de Chirico. Nein. Ich breche die Regel. Apropos Regel: Eine kosmische Absonderung unserer Körper, vom Mond gelenkt. Sie duftet frisch. Also halten wir uns an die Regel. 

Ich zitiere eine Verwandte von Mirella Pietrzyk, die Künstlerin Dorothea Tanning. Sie sagte: „Bin ich eine Surrealistin? Bin ich eine Sophistin, eine Buddhistin, eine Zoroastrierin? Bin ich eine Extremistin, eine Alchemistin, eine Verrenkungskünstlerin, eine Mythologin, eine Fantastin, eine Humoristin? Müssen wir Künstler uns verneigen und ein Label akzeptieren, ohne das wir nicht existieren? … Ich habe kein Label außer eine Künstlerin zu sein.“

Mirella Pietrzyk sagt, zu zeichnen sei für sie ein durchweg gutes Gefühl, sie beschreibt es als traumwach. Sie kommt in den sogenannten Flow, eine Form der Trance, das hält dann einige Stunden an, dann braucht sie eine Pause. Papier hängt und liegt immer bereit, damit sie schnell und ohne Aufwand aus der Welt ihres Brotjobs in das freie Arbeiten wechseln kann. Der Zeichentisch muss vorbereitet sein. „Er muss mich locken“, sagt sie. 

Falls Sie weitere Geheimnisse ihres Schaffens ergründen möchten, sprechen Sie mit der Künstlerin. Sie ist anwesend. Lassen sie Ihre eigene Stimme zu. Geben Sie Ihrer Machtlosigkeit die Schwäche, auszusprechen, was Sie bewegt. Lassen Sie sich bewegen! Spüren Sie Ihre Lust! Bleiben Sie weich! Denn wem oder was Sie sich auch immer aussetzen, nichts transformiert sie ins Optimum für die Kanten-und-Ecken-Welt. 

Kathrin Schrader, September 2024