Geheimnisvolle Landschaften | Günther Scheer
„Die Malerei von Günther Scheer führt fast selbstverständlich zur eigenen Seele und lässt den Betrachter zu überraschend neuen Einsichten gelangen.“ Zur Eröffnung der Ausstellung am Freitag, 10.11.2023 um 19 Uhr laden wir Sie und Ihre Freunde ganz herzlich ein.
Musik: Michael Stihl
Einführung: Dr. Ulrike Goeschen, Kunsthistorikerin
Kaufen: Es erscheint eine Edition mit Prints in limitierter Auflage.
Finissage: Sonntag, 7. Januar 2024, 12.30 Uhr
Günther Scheer: Geheimnisvolle Landschaften
1954 in Ingelheim am Rhein geboren verspürt Günther Scheer schon früh Interesse für Kunst und hat den Wunsch aus der bürgerlichen Welt des Elternhauses und der Schule auszubrechen. Die Künstlerexistenz schwebt ihm vor als Möglichkeit, die Freiheit zu realisieren, nach der es ihn verlangt. Er geht früh von der Schule ab, besucht Museen in großen Städten wie Berlin, Stuttgart und München und absolviert eine dreijährige Ausbildung zum Schauwerbegestalter bzw. Dekorateur. Er verweigert den Wehrdienst und leistet Zivildienst als Rettungssanitäter beim Arbeitersamariterbund. Danach folgen unstete Jahre des Suchens nach dem Lebensweg als Künstler.
So wird er im Rahmen der Begabtenförderung an der Städelkunsthochschule in Frankfurt als Student aufgenommen, bleibt dort aber nur ein Jahr und wechselt an die Fachhochschule für Grafik und Design in Mainz, die er nach dem Grundstudium ebenfalls verlässt. Erneut bewirbt er sich an der Städelschule, wird zunächst abgelehnt, 1976 dann aber zum Studium der freien Malerei und Grafik aufgenommen, das er bis zum Ende 1981 absolviert. Sein Lehrer dort ist Johannes Schreiter, ein bedeutender abstrakter Glasbildner, dessen zahllose Glasfenster und Glasbilder für öffentliche Gebäude, Kirchen, Synagogen und Kulturstätten international Anerkennung gefunden haben. Bei den Verglasungen großer Fensterflächen, wie für das Ulmer Münster oder die Dome in Mainz und Augsburg geht es dem gläubigen Christen Schreiter vor allem um die immaterielle Qualität des Lichts, um die Hervorbringung von Lichtgestalten. Sein Unterricht folgt denn auch nicht einem akademischen Plan, sondern konzentriert sich vor allem darauf, die individuellen kreativen Kräfte freizusetzen, die in gemeinsamen wöchentlichen Besprechungen erörtert werden. Schreiter führt Günther Scheer an die Malerei der Gegenwart heran, ihm ist das Verhältnis von Linie und Fläche wichtig, während sein Schüler sich an dem Problem des Raumes im Bild abarbeitet.
Scheers Vorbild damals ist der englische Maler Francis Bacon von dessen Menschenbild und Haltung als Künstler er beeindruckt ist. Später beschäftigt er sich intensiv mit dem Werk des französischen Malers Jean Fautrier (1898-1964), dessen tiefer Ernst und auch die gedeckte Farbigkeit, zum Beispiel in den Grün- und Brauntönen, ihn beeinflussen sollten. Fautrier wird dem Informel zugerechnet, der gegenstandslosen, nicht-geometrischen Kunst der Nachkriegsjahre, die ihre Ursprünge im Paris der 1940er und 1950er Jahre hat. In seinen Bildern findet sich meist ein einziger, gerade noch erkennbarer Gegenstand sehr plastisch und dicht dargestellt, was auch einen Nachhall in Günther Scheers Malerei gefunden hat. Auch die Auseinandersetzung mit einem anderen deutschen Vertreter des Informel, mit Emil Schumacher (1912-1999), der in den 1950er Jahren abstrakte Kompositionen entwickelte, die nur aus der Farbe leben, führte Scheer zu einer freien Bildauffassung. Neben der Malerei zeichnet Scheer nach Vorlagen. Das ist für ihn eine Übung, das Sehen zu disziplinieren und das Gefühl für eine visuelle Ordnung zu entwickeln. Vorzeichnungen für seine Bilder oder Fotografien fertigt er nicht an, Studien nach der Natur selten.
1981 geht er nach Berlin in der Hoffnung, dort mehr Möglichkeiten zu haben, sich als Künstler zu realisieren. Seinen Lebensunterhalt verdient er als Dekorateur, Bühnenmaler und Schildermaler. Das Leben gestaltet sich schwierig und er gerät in eine Krise. Katholisch aufgewachsen, findet er schließlich 1987, vermittelt durch den Pastor einer Freikirche, neu zum christlichen Glauben, er erfährt seelische Heilung durch die Begegnung mit Jesus und Gott. Auch besteht der Kontakt zu seinem Lehrer Johannes Schreiter weiter, der ihm nun zum Vorbild wird.
Die Bilder aus den Jahren davor, die unter dem Eindruck der Neuen Wilden entstanden waren, zerstört er und gibt die Malerei von Figuren auf. Es entsteht eine kleinformatige Bildserie zum Thema des Kreuzes. Davon ausgehend gelangt zu einer neuen Wahrnehmung der Welt, die in den folgenden Jahrzehnten in zunehmend abstrakten Bildern ihren Ausdruck finden sollte. Um 2010 ist er zu der Art Malerei gelangt, wie sie hier ausgestellt ist. Sein Leben bewegt sich inzwischen in ruhigen, festen Bahnen, er hat seine Lebensgefährtin gefunden, die Arbeit mit Kindern und Erwachsenen und an der Volkshochschule gibt seiner Existenz als freier Künstler Rückhalt, wie auch die religiöse Praxis in seiner Gemeinde „Die Kreativen“. An der Volkshochschule gibt er Zeichenunterricht für Anfänger und Fortgeschrittene und auch Workshops, in denen verschiedene Maltechniken wie Öl und Tempera erlernt werden.
Wie gelangt Scheer nun zu Bildern, wie den hier ausgestellten? Er sammelt Natureindrücke beim regelmäßigen Spazierengehen und speichert sie in seinem visuellen Gedächtnis. Farben, Himmel, Pflanzen und die natürlichen Prozesse ihrer Wandlung, der sie unterworfen sind – die ganze Schönheit und Vielfalt der Natur nimmt er auf. Die Natur ist dabei aber nicht Spiegel des Seelischen wie in der romantischen Tradition. Scheer entnimmt ihr vielmehr visuelles Material, das er mit den optischen Eindrücken aus der Erfahrung bildender Kunst verbindet.
Sein Gefühl bewertet und verarbeitet diese Eindrücke, die in sein optisches Gedächtnis eingehen und vor der Leinwand aktiviert werden. Scheer versteht seine Bilder als Gefüge aus Farben, Schichten, Flächen, Formen und Kräften, die ineinander und gegeneinander wirken. Interessant ist, dass Scheer, wenn er vor der Leinwand steht, nicht weiß, was er malen will. Das einzelne Bild entsteht vielmehr in einem kreativen Prozess, dem er sich ganz überlässt. Seit seiner Jugend verarbeitet er innere Spannungen durch das Malen und das ist bis jetzt so geblieben. Was auf dem Bild erscheint, ist auch für ihn überraschend, im Weiteren geht es ihm dann darum, die Formen in ein Verhältnis zueinander zu bringen, sie optisch stimmig und gültig zu machen. Er verwendet dafür meistens einen Untergrund, der die Farbe nicht aufsaugt und dadurch länger bearbeitbar und korrigierbar ist. Manche Bilder bleiben ganz abstrakt, in anderen tauchen Formen auf, die gegenständlich deutbar sind. Titel vergibt er denn auch stets erst nach Fertigstellung, oft in einem Dialog mit einem anderen Betrachter. Manche Bilder bleiben ohne Titel, andere heißen „Der Baum des Lebens und des Todes“, „Gesprächsrunde“, „Ausbruch“, „Ruhe vor dem Sturm“, „Absturz“, „Lebensschichten“
Das Bild „Bewusstwerdung“ von 2015, das Sie hier in der Ausstellung finden, war zunächst eine Komposition von drei Ebenen, die für Himmel, Erde und Unterwelt stehen, aus der Kräfte kommen, die sich dann zu einem baumartigen Gebilde formen, das an einem See zu stehen scheint.
Scheers Bildwelten sind von Formen und Farbkräften bestimmt, die oft Übergänge und Prozesse bezeichnen und generell etwas Drängendes, Intensives, Mächtiges und Dramatisches haben, das, wie ich finde, nach großen Formaten verlangt. Das Geheimnis von Günther Scheers Landschaften ist also die Entstehung der Bilder selbst, der kreative Prozess, das Überraschende, das sich aus ihm ergibt und auch für den Künstler ein Rätsel, ein Mysterium bleibt.
Ich finde darauf zutreffend, was Franz Roh 1925 über das surrealistische Verfahren schrieb: dieses strebe danach, „unser gesamtes psychisches Vermögen zurückzugewinnen auf einem Wege, der nichts anderes ist, als der schwindelnde Abstieg in uns selbst, die systematische Erhellung verborgener Orte.“
Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Betrachten der „Geheimnisvollen Landschaften“. Ulrike Goeschen